Kathmandu, meine Hass-Liebe
Wenn ich früher an Nepal gedacht habe, kamen mir kitschige Bilder des von der Sonne angestrahlten Mt. Everest in den Sinn. Atemberaubende Landschaften, unberührte Natur, Frauen in Saris und einer Tikka auf der Stirn, saftige Reisfelder, Gebetsfahnen, die im Wind wehen, Buttertee und genügsame Yaks, die sich durch die Berge schleppen, verrückte Sadhus mit fettigen Dreadlocks, Stupas und wachsame Augen, die einen still von den Stupas aus beobachten. Und Armut. All das war „mein“ Nepal, das ich mir in meinen (Tag)-Träumen zusammengesponnen habe. In meinen Gedanken war ich vorher schon oft da und bin durch die chaotischen Straßen Kathmandus gelaufen.
Ich sitze im Flugzeug und zappe das Boardprogramm durch. Auf meiner Hand und meinem Unterarm strahlt mir mein Hennatattoo vom Vorabend entgegen. Es geht nach Hause. Neueste Filme: Everest. Ein Zufall wird das wohl kaum sein.
Natürlich drücke ich auf „auswählen“ und schon geht es los. Wildes Chaos, hupende Autos und Gebetsfahnen flattern durchs Bild. Alle Klischeebilder, die vermeintlich für Nepal stehen, laufen über den Bildschirm. Ich bilde mir ein, die Abgase riechen zu können. Die Ankunft am Flughafen in Kathmandu, als wäre es auch bei mir gestern gewesen. Der einzige Unterschied: Ich habe mich gerade da verabschiedet, wo die Schauspieler im Film ankommen.
Ich fühle mich wie in eine andere Welt versetzt, als wäre ich in einer Blase, die hoffentlich nie platzt. Es fühlt sich so an, als wenn ich zurück in Kathmandu bin. Zurück in meinem Chaos, mit Autos, Motorrädern, Straßenhändlern, einer Menge Abgasen, Affen, die sich entlang der Stromleitungen hangeln und Kühen, die gemächlich über die Straße schlendern oder mitten darauf ein Nickerchen machen.
Ruhe in Kathmandu – Pustekuchen?
Auch mit großer Mühe kann ich das Hupen nur bedingt ausblenden. Ich liebe die Morgenstunden, wenn die Straßen noch im Dämmerschlaf liegen und auch die Luft halbwegs frisch ist. Wenn morgens der Mann auf seinem Fahrrad gegen 6 Uhr brüllend und klingelnd durch die Straßen und Gässchen fährt, um alte Zeitungen und Flaschen zu sammeln, stehe ich manchmal im Bett und denke mir „Schrei mich nicht an, ich mag doch noch gar nicht aufstehen“. Aber eigentlich ist es die perfekte Zeit, sich aus dem Bett zu quälen, um die ersten Sonnenstrahlen auf der Dachterrasse zu begrüßen und die Ruhe zu genießen. Eins steht immer fest: Chaotisch wird es schnell genug!
Ich lehne mich auf die Brüstung und gucke zu, wie die Nachbarin ihre Wäsche aufhängt. Auf den umliegenden Dächern flattern die Kleidungsstücke auf den Leinen zwischen den Gebetsfähnchen. Riesige Wassertanks stehen in der Sonne und laufen zeitweise über, wenn die Reserven im Boden von der Stadt gefüllt werden. Einige Häuserblocks weiter guckt die Stupa von Bodnath über die Hausdächer hinweg zu mir herüber. Das Erdbeben hat auch sie nicht verschont. Fleißig wird an ihr gebaut, damit bald wieder die wachsamen Augen auf die Pilger blicken können, die im Uhrzeigersinn um sie herumlaufen und fleißig die Gebetsmühlen drehen.
Denk dran: Gebetsmühlen immer im Uhrzeigersinn drehen!
Wenn man Glück hat und die Wolken mal nicht so tief hängen, kann man in der Ferne die schneebedeckten Gipfel sehen. Während es auf den Hauptstraßen keine Ruhe gibt, sieht das ein paar Gässchen weiter manchmal ganz anders aus. Wie aus dem Nichts taucht auf einmal ein kleines Reisfeld wie eine Ruheoase auf. Kinder spielen fangen oder lassen Drachen steigen. An der Luft ändert das nicht viel – zumindest bleiben einem die für ein paar Minuten die schwarzen Abgaswolken der LKW erspart.
Eine kleine Ruheoase mitten in Kathmandu.
Verrückter Straßenverkehr
Das Straßenbild ist von hupenden Autos, mobilen Verkaufsständen und Motorradfahrern geprägt. Und die Kühe gehören natürlich dazu. Stromkabel, die wie Girlanden auf den Bürgersteig herunterbaumeln, Schlaglöcher, in denen man fast Bahnen schwimmen könnte und Bürgersteige, die teilweise so hoch sind, dass man manchmal froh über eine kleine Trittleiter wäre, um hochklettern zu können. Es wird ungemütlich, wenn man im Dunkeln merkt, dass man gerade mit dem Gesicht in ein Knäuel von Kabeln gelaufen ist, das es nicht mehr an den Halterungen gehalten hat.
Darf es noch etwas Kabelsalat sein?
Auch der Anblick der Motorradfahrer lässt mich bis zum Ende nur verzweifelt Schmunzeln – nur die Fahrer müssen einen Helm tragen. Tja, so hoffe ich dann bei meinen (Mit-)Fahrten, dass ich im Fall der Fälle zumindest weich landen werde – vielleicht in einem Haufen aus Stoff, die sich an den Straßenrändern stapeln. Schlagloch um Schlagloch wird ruckelnd durchfahren – mit Vollgas merkt man die Erschütterung auch kaum, hier und da wird ein vollgepackter Bus überholt, gehofft, dass der Gegenverkehr von selbst verschwindet und so mancher Fußgänger weggehupt wird. Schweißgebadet bin ich froh, wenn ich ohne Macke wieder absteigen kann. Wahrscheinlich klebe ich alleine durch den Angstschweiß schon am Sitz fest, so dass gar nicht stürzen könnte.
Immer wieder zaubern mir die bunt bemalten LKW mit kleinen Fensterchen und Namen wie Road King ein Lächeln ins Gesicht. Manche sind mit Titanic-Motiven bemalt, andere tragen Schriftzüge von Nike oder Adidas – Hauptsache auffällig! Oder die Minivans, in die auch locker 27 Menschen, anstatt der vorgesehenen 9 passen. Am Straßenrand stehend, wird man munter von den Kassierern und lebenden Anzeigeschildern angeschrien. In einem unverständlichen Wortschwall werden einem die Stopps des Vans in einem Höllentempo entgegengeschleudert – mit der flachen Hand wird gegen die Vantür geschlagen, wenn jemand aussteigen will. Und einsteigen. Und sonst auch einfach zwischendurch.
Jeder LKW ist ein kleines Kunstwerk.
Den ganzen Müll nehme ich irgendwann gar nicht mehr wahr. So lange ich nicht mit den Flip Flops in einen Kuhfladen latsche, ist alles gut. Hier und da glüht noch ein Feuerchen am Straßenrand – die schnellste Art den Unrat loszuwerden. Und im Nachhinein vielleicht in der Situation auch die Sauberste! Heute erinnere ich mich noch an mehrere Momente, die mir wahrscheinlich noch länger im Kopf rumgeistern werden. Vom Monkeytemple geht es über die Ringroad zurück nach Boudha. Wir fahren an einer der Fabriken außerhalb des Stadtzentrums vorbei. Eine grün leuchtende Suppe fließt aus porösen Rohren entlang der Straße und verschwindet kurz danach in der Unterwelt – die Farbe erinnert mich an Matcha-Tee. Kurz danach kommen wir an der Gegend vorbei, in der die LKW für ihre langen Strecken fit gemacht werden. Ölpfützen, die an einen Tankerunfall auf hoher See erinnern, abgefahrene Reifen bekommen mit einem Messer wieder neues Profil geschnitzt, Ersatzteile fliegen im Schlamm herum, eine undefinierbare Brühe. Eine Kloschüssel liegt dazwischen. Und ein altes Fernsehgerät. Regentropfen prasseln vom Himmel und machen das Ganze nicht gerade fröhlicher.
Neuer Tag, neues Glück? Von wegen! An einem anderen Tag nehmen wir eine Abkürzung, da die Straßen mal wieder hoffnungslos überfüllt sind. Spätestens jetzt weiß jeder im Auto, wo der Müll, der morgens in aller Frühe abgeholt wird schließlich landet. Wer immer noch meint, dass Flussufer immer etwas Romantisches an sich haben, wird hier eines Besseren belehrt. Meterhoch stapelt sich hier der Müll, darauf stehen Hütten, Kinder spielen am Wasserrand und Vögel halten Ausschau, noch etwas Essbares zu finden. Der Gestank mischt sich mit den Abgasen, so dass man eigentlich gar nicht weiß, was schlimmer ist. Anstatt von Wasserpflanzen schwimmen weggeworfene Plastiktüten im Wasser. Herzlich Willkommen in der Realität!
Hindu-Soaps und Bollywood
Morgens um 7 flackert das TV Gerät. So einfach war es gar nicht, das Ding ans Laufen zu bekommen. Die Steckdosen wackeln und es braucht einiger Stützen aus einer Wasserflasche und Büchern, damit der Stecker die ganze Zeit mit Saft versorgt wird. Ich versuche mich auf meinen Haufen mit Lernsachen zu konzentrieren. Nicht so leicht, wenn nebenbei hinduistische Soaps laufen und die unzähligen Gottheiten die Hauptdarsteller sind! Der Freund meines Gastbruders ist stolz, als ich Hanuman, den Affengott, erkenne. Geistesabwesend sitzt er vor der Flimmerkiste und lacht laut vor sich hin. Vergeblich sehne ich mir heimlich einen Stromausfall herbei – mit dem Lernen wird das wohl heute nichts mehr.
Auch wenn der große Nachbar Indien nicht so beliebt ist (was bei Nachbarn ja nicht so selten ist), wird das bei Bollywoodfilmen ausgeblendet. Nachdem ich erwähnt habe, dass ich heimlich ein kleiner Fan von Shah Rukh Khan bin, habe ich damit ungewollt nun auch das abendliche TV-Programm bestimmt. Zumindest kommen wir so um die nepalesischen Eigenproduktionen „Kollywood“ herum – Glück gehabt!
Nepalis – ein Volk für sich
In meinem Kopf hatte sich bisher ein eher sehr zurückhaltendes Bild von Asiaten eingebrannt. In Nepal ist das anders. Selten habe ich eine solche Offenheit erlebt. Wir sitzen im Bus. Mein rechter, rechter Platz, bzw. mein halber Oberschenkel ist noch frei. Da merke ich schon, dass der Mann neben mir entweder meine Sommersprossen oder Schweißperlen im Gesicht zählt. Er wartet einfach nur darauf, dass ich mich zur Seite drehe und somit signalisiere, dass ich zum Ausfragen bereit bin. Namasteeeeee! Where are you from? Whats your name? You like Nepal? Mein Gastbruder wird weiter gelöchert: „Isst sie mit den Händen?“ „Ja, sehr gut sogar!“ „Mag sie unser Essen?“
Während ich gerade noch versuche, den Händlern auf dem Gehweg nicht auf ihr schön aufgestapeltes Gemüse zu latschen, zieht immer mal wieder jemand beherzt die Nase roch und spuckt im hohen Bogen auf den Bürgersteig. Hach, dieses Geräusch, was ich neben dem ständigen Hupen wahrscheinlich nicht vermissen werde. Wie mit dem Kuhhaufen hoffe ich immer, dass ich nicht in eine kleine Pfütze aus Rotze laufe.
So hässlich Kathmandu so manches Mal ist, machen die Begegnungen mit einzigartigen Menschen all das wieder wett. Gemeinsam lachen, mit Händen und Füßen verständigen und sich nach kurzen Augenblicken so fühlen, als wenn man sich jahrelang kennt. Das Lächeln steckt an, oder?
Feierabend bedeutet Gemütlichkeit – und Alkohol
Feierabendbier ist auch in Nepal kein Fremdwort. Und offenbar gehört es zu jedem geschafften Arbeitstag dazu. Pünktlich ploppen die Kronkorken. Auf den Tisch kommt Nepal Ice, Everest oder Gorkha – nepalisches Starkbier, in großen Flaschen. Wenn ich am Anfang noch freudig dachte, dass ich mit meiner Zöliakie eine super Ausrede habe, um um das Bier herumzukommen, steht wenig später Cider auf dem Tisch! Na dann Prost! Zu besonderen Anlässen wird gerne auch mal was Selbstgebranntes aus dem Versteck geholt. Undefinierbarer Reisschnaps. „Glutenfrei“, kichert meine Gastmutter schelmisch und prostet mir zu.
Der Abend wird länger, als geplant. Wie so oft. Es wird im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt gequatscht. Hast du dich schon mal gefragt, warum Shiva blau ist und Ganesh eigentlich einen Elefantenkopf hat und etwas Babyspeck um die Hüften trägt? Nein? Hatte ich bis dahin auch nicht. Aber das ist eine andere Geschichte!
Kathmandu, meine Hass-Liebe
Kathmandu, es fühlt sich nicht komplett richtig an, wenn ich sage, dass ich dich liebe. Ich liebe und hasse dich zur gleichen Zeit. Können wir uns auf eine Hass-Liebe einigen?
Nepal, du bist für mich viel mehr als der kitschige Anblick des Mt. Everest geworden (der sich bei meinem Besuch aus der Ferne auch noch hinter Wolken versteckt hat). Außer Yakkäse und Schals aus Yakwolle habe ich keine der wuscheligen Vierbeiner gesehen und nein, ich habe auch keinen Buttertee getrunken. Ich erinnere mich noch daran, wie ich in einem unbeoabachteten Moment versucht habe ohne anzusetzen aus der Wasserflasche zu trinken, so wie es die Nepalis in Perfektion können. Anders als geplant hatte ich danach aber das Wasser im Gesicht.
Ich habe schnell aufgegeben, die Gebetsfahnen zu zählen, die überall die guten Segenswünsche in den Himmel wehen – wahrscheinlich würde ich heute noch da sitzen. Gebetsfahnen und allsehende Augen: Die Stupa von Swayambhunath
Räucherstäbchen, Butterlampen, knirschende Zähne durch den Staub auf den Straßen, laut schallende Hindimusik und verrückte TV Sendungen, bunte Götterbilder und der Hang zum Kitsch, totales Chaos, halsbrecherische Autofahrten und vermeintlich sinnfreies Hupen, kleine Hocker aus Bambus, Fahrradreifen und einer gewobenen Sitzfläche, unzählige kleine Kioske, riesige Töpfe voller Wasser und schwimmender Blüten in pink und gelb, Dal Bhat: Power 24-hour, Besen aus feinen Gräsern, unzählige Festivals, die natürlich mit einer Menge Alkohol begossen werden müssen – all das bist du für mich. Du bist für mich wunderschön und so hässlich zugleich mit deiner dicken Schicht aus Abgasen. Goldene Nasenpiercings, Tikkas aus Reiskörnern und Farbpigmenten, die nach und nach durchs Trocknen ins Essen bröckeln, saftig grüne Reisfelder, wunderschöne Sonnenuntergänge am Phewa-See in Pokhara, unzählige Tees in Thamel, Essen bei Taschenlampenlicht, wenn der Strom ausfällt, Tränen in den Augen, weil man ein unterschiedliches Verständnis von „wenig“ Chili hat und unendliche Abende mit Gitarrenmusik.
Nepal, du verrücktes Fleckchen Erde! Obwohl du es mir oft nicht leicht gemacht hast, hast du dir einen großen Platz in meinem Herzen erkämpft. Ich habe selten so ein beeindruckendes Völkchen getroffen, das nach all den Schicksalsschlägen der vergangenen Zeit noch so fröhlich und unbeschreiblich einzigartig ist. Nepal, du treibst mir Tränen in die Augen, wenn ich an dich denke. Ich vermisse dich so sehr. Du bist für mich Lachen, Freundschaft und ein Teil Familie. Dhanyabad!
8 Comments
Wie schön! Ich war im Oktober zum ersten Mal in Nepal, und Kathmandu habe ich ganz ähnlich erlebt. Jetzt habe ich auch noch mehr Lust, direkt noch mal hinzufliegen.
Liebe Susanne,
oh, das freut mich, dass du Kathmandu auch so wahrgenommen hast! Ich kann dich so gut verstehen – für mich geht es Anfang Februar auch endlich wieder zurück!
Viele liebe Grüße
Anna
Was für ein schöner Text <3
Liebe Caroline,
vielen Dank für deinen lieben Kommentar! Da freue ich mich sehr drüber!
Herzliche Grüße
Anna
Du schreibst mir aus dem Herzen! Ich war 2014 in Nepal – vor meiner Zöliakiediagnose und bin heute beim Recherchieren für eine neue Reise auf deinen Blog gestoßen. Jetzt freue ich mich auf die nächste Reise.
Liebe Diana!
Vielen Dank für deinen lieben Kommentar! Es freut mich so sehr zu hören, dass ich dich etwas für deine kommende Reise ermuntern konnte. Ich finde es toll, dass auch du dich nicht durch die Zöliakie vom Reisen abhalten lässt! Wenn du Fragen haben solltest, kannst du mir immer gerne schreiben. Liebe Grüße Anna
die fotos sind einfach beeindruckend, da bekommt man direkt fernweh.
und der post ist so wundervoll geschrieben 😀
ich war vor einigerzeit in indien und kann dein gefühl anscheinend nach empfinden.
wundervoller beitrag
alles Liebe deine AMELY ROSE
Liebe Amely,
vielen Dank für deine lieben Worte!! Ich war dafür noch nie in Indien – wahrscheinlich ist Nepal da noch entspannt gegen:-).
Viele liebe Grüße
Anna